die zypressenallee
schon beim überschreiten der niedrigen schwelle spürt ihr,
wie sich der fluss der zeit verändert. es wird euch eine zeitlang
schwindlig sein – das ist ganz normal. schliesst die augen und atmet tief
ein. ihr werdet für kurze zeit einen schwarzen tunnel sehen, mit einem
licht am ende, das euch zu locken scheint. ignoriert es (so weit sind wir
noch lange nicht). es wird euch bald besser gehen.
in der nacht sieht man manchmal kerzenlicht hinter den bunten fenstern, man hört seltsame musik und stimmen. dann ist die gefahr am grössten. bleibt in der nacht unbedingt auf der allee und weicht nicht von eurem weg ab, egal, was ihr hören oder sehen mögt. folgt der schnurgeraden strasse, ohne nach links oder rechts zu blicken. ihr habt euch umgesehen und einen ersten eindruck gewonnen? habt ihr auch die sterne gesehen? es ist der winterhimmel mit seinen eigenen stern-konstellationen. hier ist immer winter, obwohl es ein blühender garten ist. ein paradoxon? – wohl kaum, wenn man sich mit der bedeutung des winters auseinandersetzt. hinter der gartentür, im schatten der mauer fast verborgen, wartet etwas...jemand...auf euch. es ist jemand, den ihr kennt und auch wieder nicht – alle reden von ihm, doch kaum jemand konnte je sein gesicht sehen. auch diesmal liegt es im schatten. zu seinen füssen liegen eine goldene, mit edelsteinen besetzte krone und ein zepter, beides ist zerbrochen. er winkt euch, ihm zu folgen. kurz seht ihr seinen ring aufblitzen, einen silbernen, mit amethyst besetzten totenkopffalter. tretet in die dunkelheit und folgt ihm durch den arkadengang, der von leisen stimmen erfüllt ist. ein seufzen hier, ein murmeln dort, aus den nischen, in denen sich dinge verbergen, die ihr nicht erkennen könnt. fresken und inschriften in klassischem stil verzieren die wand über den nischen, die wie eingänge wirken. das steinerne abbild einer abgeschnittenen hand, die eine feder hält
und in ein buch schreibt, darunter die inschrift „ die kammer des poeten
„, weckt eure aufmerksamkeit. der eingang ist von einer blutroten stoffbahn
verhüllt, dahinter scheint jemand mit sich selbst zu reden. sinnend
bleibt ihr davor stehen und wollt den vorhang beiseite schieben, doch die
hand auf eurer schulter lässt euch zusammenzucken. still lächelt
er, unbewegt scheint er, doch die worte, die er spricht, hallen in eurem
inneren wider. „es ist der dichter, der nur zu sich selbst spricht. rastlos
schreibt er, niemals ruht er. niemals findet er das rechte wort, das meisterwort,
hat er doch verlernt, zu hören.“ er dreht sich um und geht, weiter
durch den arkadengang und ihr hinterher, gefolgt von leisem gequältem
schluchzen.
sie liegen und schlafen, der tod schreitet durch den vorhang, der sich in flatternde schmetterlinge verwandelt, die noch eine zeitlang durch den arkadengang schweben wie graue federn. ein rotes tuch weht im wind, abendrot färbt die abgeschnittene hand blutrot, ein weinen, ein leiser schrei, dann nichts mehr. die gesichter der schläfer bedeckt eine zuckende, graue masse von schmetterlingsleibern. sie liegen ruhig und atmen nicht. einer nach dem anderen wird sich erheben und den raum verlassen, den
er sofort vergessen hat, als er ihn zum ersten mal sah. er wird nicht die
richtung einschlagen, die der tod genommen hat, sondern in die andere richtung
gehen. er findet sich wieder in der allee. der tod ist nicht mehr hier.
vor dem schläfer (...?...) liegt ein langer weg mit vielen entdeckungen
und abenteuern. er fühlt sich frisch und verjüngt.
© shine
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